Es gibt immer wieder Zeiten, in denen alte Börsenweisheiten zitiert und bemüht werden müssen. Darunter die berühmte Regel „Sell in May and go away“, die jeder kennt und die auch dieses Jahr wieder einmal nicht zutraf. Es gibt aber auch flapsigere Regeln, die den Alltag von Börsenhändlern/‑innen relativ gut beschreiben können. So zum Beispiel „Ohne Vola keine Cola“. Weder fußt diese Börsenregel auf ausgefeilten mathematischen Algorithmen, noch sind fundierte volks- oder betriebswirtschaftliche Kenntnisse vonnöten, um zu erkennen, dass Börsen dann viel Umsatz machen, wenn hohe Schwankungen (Volatilität) an den Börsen auftreten. Von diesem zuckerhaltigen Getränk muss es im ersten Halbjahr viel gegeben haben, denn solche Kursverläufe waren so noch nie gesehen – zumindest nicht in so kurzer Zeit. Anfang Februar erreichten viele internationale Aktienmärkte neue Höchststände und ein Ende der Rekordjagd war nicht absehbar, da die Prognosen für die Weltwirtschaft immer besser wurden. Bis dann die Covid-19-Pandemie, die zunächst fälschlicherweise als eine wie 2003 beim SARS-Virus in den Griff zu bekommende Epidemie betrachtet wurde, die lediglich regionalen Bezug (Asien) hat. Nachdem sich das Virus jedoch monatelang unerkannt in Italien, Spanien oder etwa im Elsass verbreitet hatte und klar wurde, dass hier eine ernsthafte weltweite Pandemie ausgebrochen war, brachen alle Dämme. Lockdowns auf der ganzen Welt, in denen das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zum Stillstand kam, lösten ein Erdbeben an den internationalen Finanzmärkten aus.
Innerhalb von 4 Wochen verloren die wichtigsten Aktienindizes weltweit bis zu 40 % an Wert und ganze Bereiche der Rentenmärkte drohten illiquide zu werden und zusammenzubrechen. Einzig das schnelle und energische Eingreifen der internationalen Zentralbanken, flankiert von massiven Fiskalprogrammen der Regierungen, verhinderte die Kernschmelze an den Finanzmärkten. Nun gibt es auch für diesen Zustand eine, wenn auch nicht mehr so zeitgemäße Börsenregel: „Kaufen, wenn die Kanonen donnern.“ Glücklicherweise gab es im März keine kriegerischen Handlungen, aber diese Metapher für antizyklisches Vorgehen an der Börse wäre auch in diesem Fall zumindest bis dato richtig gewesen. Viele institutionelle Investoren haben das Pech, in solchen dramatischen Crash-Situationen aufgrund regulatorischer oder aus in Anlagerichtlinien resultierenden Gründen prozyklisch handeln zu müssen, und sind aus den Aktienmärkten zur Unzeit ausgestiegen. Manche haben sich aber auch einfach falsch entschieden, nicht zuletzt, weil der Zugang zu Absicherungsinstrumenten für große Investoren einfacher ist. Dem schnellsten und stärksten Crash der Geschichte folgte eine schnelle und beeindruckende Erholungsrally, die den Großteil des März-Crash bereits wieder aufgeholt hat. Viele institutionelle Investoren haben diese Rally verpasst und stützen dieses Kursniveau, indem sie verzweifelt jeden kleinen Kursrückgang nutzen, um sich wieder in die Märkte zu schleichen. Leider können sie nicht von den süßen Kursgewinn-Bonbons im zweiten Quartal profitieren, stattdessen scheint manchen von ihnen das Pech an den klebrigen Fingern zu kleben.
Die Frage ist nun, wie es weitergeht. Die Börsen haben sich definitiv von dem zugrundeliegenden fundamentalen wirtschaftlichen Umfeld abgekoppelt und preisen eine starke und schnelle wirtschaftliche Erholung ein. Aber eingehüllt in den von Zentralbanken und Regierungen gewebten Zuckerwatte-Nebel fällt es schwer, klare Sicht auf die Dinge zu entwickeln, insbesondere da die nächsten Monate von großer Unsicherheit geprägt sind. Die konjunkturelle Talsohle war zumindest im April durchschritten. Frühindikatoren wie der ifo-Geschäftsklimaindex, Konsumindikatoren oder Einkaufsmanagerindizes zeigen starke Aufwärtsbewegungen, wenn auch noch von gedrücktem Niveau.
Die umfangreichen Lockerungen der Covid-19-Beschränkungen führen auch zu ersten positiven harten Wirtschaftsdaten. So zeigten die Mai-Einzelhandelsumsätze in Deutschland den stärksten monatlichen Anstieg seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 1994. Aber erst wenn ein oder im Idealfall mehrere Impfstoffe bestätigt sein werden, können die Volkswirtschaften auch in Bereichen wie Tourismus, Gastronomie, Großveranstaltungen (z. B. Messen, Konzerte) oder kulturellen Veranstaltungen aller Art zur Normalität zurückkehren. Bis dahin können sich Anleger über die süßen Kursgewinne freuen, sollten sich aber nicht zu viel zuckerhaltige Speisen einverleiben, um einen Zuckerschock zu vermeiden. Denn die Schwankungen an den Börsen dürften uns über den Sommer erhalten bleiben. Nicht zuletzt wegen der nach wie vor ungelösten Brexit-Probleme oder der großen Wellen, die im Vorfeld des US-Präsidentschaftswahlkampfes über den Atlantik auf Europa zurollen. Eine etwas defensivere Anlagepolitik ist nach wie vor anzuraten.