Ziehen sich die an der ukrainischen Grenze aufmarschierten russischen Truppen wieder zurück und hat die Diplomatie noch eine Chance, den Krieg zu verhindern? Das war noch in der letzten Woche die Frage in der größten geopolitischen Krise auf europäischem Boden seit dem Ende des kalten Krieges, die die Aktienmärkte bereits in Schach hielt. Russlands Präsident Putin gefällt sich ja schon seit einiger Zeit in einer „Bad-Guy-Rolle“ und versuchte, die westliche Allianz mit seinem Truppenaufmarsch und widersprüchlichen Kommunikationsstrategien unter Druck zu setzen. Ein Ziel scheint er aber verfehlt zu haben, denn die Staaten Europas untereinander und die USA zeigen eine seltene Einigkeit.
Nun hat er aber auf dramatische Art Fakten geschaffen, in dem er nicht nur die beiden Separatistengebiete in der Ost-Ukraine als selbstständige Staatengebilde anerkannt und Soldaten zu einer „Friedensmission“ entsendet hat, sondern darüber hinaus heute einen großangelegten militärischen Angriff auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine befohlen hat. Damit ist es nun zur befürchteten militärischen Eskalation der Russland-Ukraine-Krise, die eigentlich eine Russland-Westen-Krise ist, gekommen. In der Folge zeigten die internationalen Aktienmärkte ausgeprägte Korrekturen. Die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung ist gegen Null gesunken und nun soll das umfangreichste Sanktionspaket aller Zeiten der EU und der USA in Kraft treten. Dies wird die russische Wirtschaft sehr schwer treffen, aber auch die europäische Wirtschaft wird zweifellos in Mitleidenschaft gezogen werden. Zwar sind die europäischen und deutschen Exporte nach Russland mit nur 1-2% des deutschen Exportvolumens relativ überschaubar, aber die zu befürchtenden deutlichen Preisanstiege bei Gas, Öl und Nahrungsmitteln (v.a. Weizen) werden die inflationären Tendenzen weiter anheizen und auf hohem Niveau halten. Angesichts der horrenden Kosten für alle Beteiligen für den Fall einer realen kriegerischen Auseinandersetzung gingen wir in unserem Basis-Szenario für die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Monate davon aus, dass sich die Vernunft durchsetzen und über die Diplomatie eine Kompromisslösung in diesem Konflikt finden wird. Dieses Basis-Szenario, welches wir mit einer Eintritts-Wahrscheinlichkeit von 65% gewichtet haben (Negativ-Szenario 25% (Rezession), Positiv-Szenario 10% (Boom)), unterstellte neben einer diplomatischen Lösung der Russland-Ukraine-Krise auch eine Verbesserung der internationalen Covid-19-Pandemielage. Die neue Omikron-Variante ist zwar wesentlich ansteckender, scheint aber zu weniger schweren Verläufen zu führen. Das nährt die Hoffnung, dass der Virus „endemisch“ werden könnte, also irgendwann zu einem normalen, i.d.R. mildem Infektionsgeschehen in der Gesellschaft führen könnte. Die Folge wären umfangreiche Öffnungen vieler Wirtschaftszweige, wie z:B. Gastronomie, Kulturveranstaltungen und dem Messewesen, die bis dato sehr unter den Pandemie-Beschränkungen leiden mussten. Die Nachholeffekte, insbesondere im privaten Konsumbereich, dürften im zweiten und dritten Quartal 2022 starke Wachstumseffekte generieren. Erste Anzeichen, dass auch die Industrie Hoffnung schöpft, verdeutlicht der im Februar für Deutschland erhobene Einkaufsmanagerindex, der sich von 52,2 Punkten (Januar) auf 56,2 Punkte verbessern konnte (Werte über 50 deuten Wachstum in den nächsten Monaten an). Auch in der Eurozone stieg dieser Index von 52,2 im Januar auf 52,9 Im Februar. Diesmal wurde die wirtschaftliche Verbesserung vor allem vom Hoffnung schöpfenden Dienstleistungssektor getragen. Auch der repräsentative Ifo-Geschäftsklimaindex, welcher auf einer Befragung von ca. 9.000 Unternehmen, beruht, konnte in seinem Februar-Wert sowohl in der gegenwärtigen Lage-Beurteilung als auch in der Geschäftserwartungs-Komponente positiv überraschen. Diese Umfrage-Werte wurden allerdings noch vor der beispiellosen Eskalation in der Ukraine erhoben. Die Verbraucherstimmung in Europa hat sich zumindest jetzt schon etwas eingetrübt, ist bereits dem September 2021 auf dem Rückzug und dürfte nun einen weiteren starken Dämpfer bekommen. Auch in Deutschland bildete sich der GFK-Konsumklimaindex einmal mehr zurück. Sowohl die Einkommenserwartung als auch die Anschaffungsneigung musste gegenüber der Befragung im Januar Einbußen hinnehmen. Die vermutlich auflebende Konsumstimmung im Frühjahr könnte ein Wende bringen, sofern der Inflationsduck nicht zu stark wird und den Konsumenten nachhaltig die Stimmung verhagelt. Denn die Hoffnung, dass sich die Energiekosten als wichtigster Inflationstreiber etwas ermäßigen könnten, hat sich durch die aktuelle Eskalation der Russland-Krise kurzfristig in Luft aufgelöst. Dennoch dürften die Worst-Case-Szenarien, die von Rohölpreisen von 175 – 200 USD/Barrel im Falle eines militärischen Konfliktes in der Ukraine ausgehen, nicht eintreten., denn andere Anbieter weltweit stehen parat, um in die Bresche zu springen.
Eines der größten Hindernisse für das Wirtschaftswachstum in den letzten Monaten waren Lieferkettenprobleme und Engpässe bei z.B. Halbleitern und Rohstoffen. Diese dürften sich im Verlauf des Jahres 2022 nach und nach auflösen und voraussichtlich in 2023 überwunden sein. Gemäß einer Umfrage des IFO-Instituts leiden zwar immer noch viele Unternehmen unter der Lieferketten-Problematik , aber es gibt inzwischen auch deutliche Entspannungssignale. Dies verdeutlicht sich auch in der unerwartet stark gestiegenen Industrieproduktion in Deutschland und Europa Ende des Jahres 2021. Hinzu kommen prall gefüllte Auftragsbücher vieler Unternehmen, die eine gute Grundlage für das Wachstum in 2022 darstellen. Hinsichtlich der Beseitigung von Engpässen z.B. bei Halbleitern haben die EU und die USA die Zeichen der Zeit erkannt. Die heimischen Produktionen sollen in der EU gemäß des soeben verabschiedeten „European Chip Act“ mit ca. 45 Mrd. Euro und in den USA mit 52 Mrd. Euro gefördert werden. Der Weltmarktanteil der EU in der Chip-Produktion soll so von 9% auf nahezu 20% steigen. Die Covid-19-Pandemie hat auch in anderen Bereichen, wie z.B. der Medikamenten-Produktion gezeigt, dass eine zu offensive Globalisierungsstrategie im Krisenfall zum Nachteil gereichen kann, wenn Hauptproduktionsländer wie Indien ihre Produkte erst einmal für die eigene Bevölkerung zurückhalten. Diese „De-Globalisierungstendenzen“ werden zusätzlich für eine gewisse Verteuerung vieler Produkte sorgen, auch wenn es viele automatisierte und digitalisierte Produktionsstätten geben wird.
Für Aktienmärkte sind gute Wirtschaftsdaten nicht mehr per se positiv, da zu gut ausfallende Wirtschaftsdaten Inflationsbefürchtungen befeuern und die Sorge vor restriktiven Zentralbankmaßnahmen schüren. Die US-Notenbank Fed wird im März einen ersten Zinsschritt vornehmen, um die Inflationsrate (Jan: +7,5%) zu bekämpfen. Sollte der Februar-Wert nicht deutlich nachgeben, dürfte sogar ein 0,50%-Schritt vorgenommen werden. Allerdings könnte die aktuelle geopolitische Entwicklung in der Ost-Ukraine wieder für mehr Zurückhaltung bei den Zentralbanken sorgen. Die Renditeprognosen für die Anleihenmärkte erhöhen sich jedoch etwas, denn im Gefolge einer restriktiveren Geldpolitik der Zentralbanken haben die langfristigen Zinsen bereits zu steigen begonnen.
In kurzfristiger Hinsicht werden die Ereignisse in der Ukraine das Unternehmens- und Verbraucher-Sentiment in Europa stark belasten. Die Risikoneigung vieler Investoren dürfte vorerst getrübt sein und die Erholungstendenzen der Wirtschaft nach den anstehenden umfangreichen Öffnungen in der Pandemiebekämpfung werden sich wieder einmal um einige Monate verschieben. Mittelfristig ist zu hoffen, dass sich der Konflikt nicht noch weiter in Ost-Europa ausdehnt und es gar zum Nato-Fall kommt. Bei Putin von Vernunft zu sprechen, fällt schwer, aber ein militärischer Konflikt mit einem Nato-Staat, dürfte selbst er vermeiden wollen. Die weitreichenden Sanktionen werden Europas Wirtschaft und das Bankensystem belasten und Negativ-Szenarien mit Rezessionsgefahren muss wesentlich breiterer Raum eingeräumt werden.
Für Finanzmarktinvestoren bedeutet dies, dass die Konzentration auf defensiv ausgerichtete Finanzanlagen und die Beibehaltung einer international diversifizierten Anlagestruktur unerläßlich ist. Panikverkäufe sind wie immer fehl am Platz, für Neu-Investments sollte jedoch die weitere Entwicklung erst einmal abgewartet werden.