Die Marktmeinung aus Stuttgart

Welt der Füllhörner

Stuttgart, 27. Mai 2020 - von Michael Beck

Es könnte märchenhaft schön sein – kaum sieht man ein Finanzloch, schon wird es gestopft. Wenn nicht durch eine Zentralbank, dann durch ein Regierungsprogramm, das in Windeseile Geldmittel in Dimensionen bereitstellt, die vor einigen Wochen unvorstellbar gewesen wären. Zum einen muss jedoch klar gesagt werden, dass diese Bereitschaft unbedingt nötig war, um einen Totalkollaps der Volkswirtschaften mit unabsehbaren Folgen für gesellschaftliche Zusammenhänge zu verhindern. Zum andern verfestigt sich der Eindruck, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, von den gießkannenartigen Füllhorn-Maßnahmen abzurücken und bei den Hilfen zu differenzieren und gezieltere Maßnahmen zu treffen. Zunehmend werden die Beschränkungen der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Umgangs gelockert, zumindest wurde der Weg in Richtung einer wie auch immer mit dem Corona-Virus aussehenden Normalität eingeschlagen. Denn auch wenn mit den aktuellen Lockerungen in weiten Teilen der Bevölkerung der Eindruck zu entstehen scheint, dass das Virus „besiegt“ sei, dürfte dies leider märchenhaftes Wunschdenken sein. Solange keine wirkungsvollen Medikamente oder sichere Impfstoffe gefunden und bestätigt sind, werden einige Beschränkungen nicht aufhebbar sein.

Dies wird derzeit von den Aktienmärkten gefeiert, die einige Vorschusslorbeeren auf die anstehende Wirtschaftserholung verteilen.

Sowohl der wichtige ifo-Geschäftsklimaindex als auch das GfK-Konsumvertrauens-Barometer konnten sich von ihren unterirdischen Tiefs lösen und die erleichternde Botschaft senden, dass der Boden des Konjunkturabgrunds im April bzw. Anfang Mai wohl erreicht war. Die steile V-förmige Erholung der Wirtschaft, die die Aktienmärkte einpreisen und abbilden, dürfte jedoch in die Welt der Fabeln gehören. Das Konsumentenvertrauen bessert sich zwar etwas, die Zurückhaltung ist aber mehr als spürbar und wird noch eine ganze Zeit lang anhalten. Es gibt zu viele Bereiche der Wirtschaft, die noch lange von der Ansteckungsbedrohung des Virus beeinträchtigt sein werden. Die Gastronomie in der Schweiz, die etwas früher öffnete, verzeichnet Umsätze in Höhe von ca. 40 % des Vorkrisenniveaus. Zu viel zum Sterben, aber zu wenig, um zu leben. In Deutschland sehen die ersten Zahlen im Schnitt ähnlich aus. Das „V“ dürfte also ziemlich spärlich ausfallen und im schwäbischen Dialekt eher als „V-le“ bezeichnet werden können, bei dem die rechte Seite des Buchstabens kleiner und weniger steil ausfällt, als die linke. Dies wirft die Frage auf, ob das aktuelle Aktienkurs-Niveau gerechtfertigt ist. Bewertungsmaßstäbe sind in Zeiten großer Unsicherheit über die künftige Gewinnentwicklung der Unternehmen schwer anzulegen, die Aktienmarktbewertungen liegen derzeit jedoch sicher im teuren und überkauften Bereich.

Die Finanzierung all der teuren Programme ist zumindest in Europa auf dem Weg, wobei auch hier die Differenzierung zu beginnen scheint. Das Füllhorn der EU wird noch von einigen Nordstaaten verschlossen gehalten. Und dies zu Recht, denn es ist nicht nachvollziehbar, dass sich z. B. Italiens Regierung aus politischen Gründen weigert, Kreditmittel aus dem ESM-Programm mit einem Zinssatz von 0,10 % abzurufen und stattdessen lieber eine Staatsanleihe auflegt, um 380.000 Italiener mit einem Zinssatz von 1,40 % plus Inflationsausgleich bei voller Haltedauer von 5 Jahren beglückt. Lieber möchte man das EU-Geld als Zuschuss-Geschenke haben. Die EU ist dazu auch zunehmend bereit, wie die Vorstöße von Bundeskanzlerin Merkel, des französischen Präsidenten Macron und der EU-Kommissions-Chefin von der Leyen zeigen.

Unverständlich ist vor diesem Hintergrund, dass dann in Brüssel Diskussionen um die deutsche Staatshilfe für die systemrelevante Fluglinie Lufthansa entbrennen. Viel sinnvoller wären die Diskussionen darüber, wie die Wirtschaft nach der Krise aussehen soll. Der Flugbetrieb dürfte in den nächsten Monaten und vielleicht Jahren gedämpfter verlaufen. Viele Maschinen werden stillgelegt werden bzw. bleiben und viele Arbeitsplätze wegfallen. Dafür sollten weitere Bundesmittel für alternative Verkehrsmittel wie die Deutsche Bahn eingesetzt werden, die ihre Kapazitäten in Zukunft deutlich erhöhen muss. Aufgrund der aktuell schlechten Auslastung plant die Deutsche Bahn Sparprogramme, welche definitiv kontraproduktiv wären. Lieber sollten die Mittel eingesetzt werden, um Kapazitätserweiterungen und Effizienzsteigerungen umzusetzen. Den aus dem Blick geratenen Klimazielen wäre das mit Sicherheit förderlich. Und vielleicht können dort sogar die Arbeitsplätze entstehen, die jene in der Flugbranche wegfallenden ersetzen. Zumindest wird man auf absehbare Zeit in Europa nicht auf die märchenhaften Füllhörner verzichten können. Spannend wird die Frage werden, wer zukünftig für den daraus entströmenden Inhalt sorgen wird. Denn eines ist klar: Märchen sind schön, aber leider nicht real.

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