Die Marktmeinung aus Stuttgart

Wellenbewegungen

Stuttgart, 11. November 2020 - von Michael Beck

Nein, es war keine „Blaue Welle“, die den 45. US-Präsidenten aus dem Amt gespült hat, aber es war eine riesige Erleichterungswelle, die nach dem Wahlsieg des neu gewählten US-Präsidenten Joe Biden über den Planeten rollte. Nicht nur, dass nun Chancen bestehen, die größte Volkswirtschaft der Welt wieder in ruhiges Fahrwasser zu bringen und die US-Gesellschaft zumindest etwas zu befrieden, auch der Umstand, dass die unheilige Erfolgsphalanx der rechtsgerichteten, undemokratischen Populisten nun durchbrochen wurde, ist ein hoffnungsvolles Zeichen für die Weltwirtschaft. Im Gegensatz zum abgewählten Amtsinhaber kann der neu gewählte US-Präsident Joe Biden als klarer „Transatlantiker“ bezeichnet werden. Aus seinen Obama-Amtszeiten besteht ein umfangreiches und sehr gutes Netzwerk der Berliner und EU-Politik mit Bidens Team, was die Hoffnung aufkeimen lässt, dass die vielen dringenden Probleme der Welt wieder konstruktiv angegangen werden können. Mit Biden wird wieder ein sympathischer, seriöser, kompetenter und vor allem normaler Mensch das wichtigste Amt der USA bekleiden. Dies zeigt sich auch darin, dass Joe Biden keinen Zorneswellen oder Adrenalinschüben unterliegt. Zumindest zeigt er es nicht und gibt sich sehr präsidial. Die internationalen Aktienmärkte reagierten umgehend mit einer Welle der Begeisterung, die dann am Montag sogar in einer Euphorie-Woge kulminierte, als die Nachricht über die 90 %-Wirksamkeit des von der Kooperation des Mainzer Biotech-Unternehmens Biontech mit dem US-Pharmaunternehmen Pfizer entwickelten Impfstoffes die Welt überraschte.

An den Aktienmärkten begann in der Folge eine Sektor-Rotation. „Corona-Verlierer“, also vor allem zyklische Werte (z. B. Flugzeug-, Auto- und Energiebranche) haussierten teils mit zweistelligen prozentualen Kursanstiegen, bisherige Pandemie-Gewinner korrigierten. Ob dies nur ein kurzfristiger Trend ist oder ob er sich in 2021 manifestiert, hängt von der Geschwindigkeit der Impfungen ab. Es steht jedoch nicht zu erwarten, dass z. B. der Technologiesektor dauerhaft leiden wird, denn der Trend z. B. zur Digitalisierung hat durch die Covid-19-Pandemie an Fahrt und Dynamik gewonnen.

Darüber hinaus ist es noch keine ausgemachte Sache, dass mit dem neuen US-Präsidenten sämtliche Probleme gelöst sind. Die US-Wirtschaft befindet sich nach wie vor in einer überaus tiefen Krise mit extrem hohen Arbeitslosenraten. Der Handelskonflikt mit China wird von Joe Biden fortgesetzt werden, denn er ist nur Symptom der aktuellen „Great Power Competition“. Dieser Begriff umfasst nichts weniger als den Kampf um die Vorherrschaft in der Welt. Und dies nicht nur in wirtschaftlicher oder militärischer Dimension, sondern vor allem in technologischer Hinsicht. Und hier sind die Interessen der demokratischen und republikanischen Partei ziemlich deckungsgleich. Da ein US-Präsident Biden diese Problematik weniger brachial im Alleingang, sondern eher im Verbund mit den europäischen Verbündeten angehen dürfte, wird letztendlich auch die europäische (und deutsche) Wirtschaft vor Entscheidungen gestellt werden. Der Disput um die Beteiligungen des Technologie-Riesen Huawei am Aufbau des strategisch wichtigen 5G-Netzes ist nur ein Vorgeschmack darauf.

Zunächst gilt es jedoch, die diversen Covid-19-Wellen in den Griff zu bekommen. Deutschland und Europa stecken tief in der zweiten Infektionswelle und reagieren darauf mit (Teil-)Lockdowns, die in einigen Ländern größere Teile umfassen als in Deutschland. Die USA kämpfen derweil schon mit der dritten Pandemiewelle und haben dieser bisher wenig entgegenzusetzen. Der vom Amtsinhaber sowieso schon hintertriebene und verhinderte reibungslose Übergang zur neuen Biden-Administration wird in der Pandemiebekämpfung wertvolle Zeit kosten.

Zwar hat Joe Biden schon ein Pandemie-Bekämpfungs-Team zusammengestellt. Wenn dies seine Arbeit aber erst ab dem 20. Januar aufnehmen kann, wird es für sehr viele US-Bürger zu spät sein. Zudem steht am 11. Dezember die Verlängerung der Finanzierung des Verwaltungsapparates der USA an. Sollten die Republikaner ihre Blockadepolitik da schon starten wollen, wäre die Katastrophe und ein neuerlicher „Government Shutdown“ perfekt. Ein ebenso großer Skandal ist der Umstand, dass offensichtlich die Führung der republikanischen Partei den gekränkten abgewählten Amtsinhaber nicht nur gewähren lässt, sondern offensichtlich auch goutiert. Die Spiegel, in die diese antidemokratischen Politiker noch schauen können, scheinen endgültig zersplittert zu sein. Noch kann man der unabhängigen Gerichtsbarkeit in den USA vertrauen, die schon eine Reihe dieser unbegründeten Klagen abgewiesen hat. Die Frage wird sein, ob die republikanische Partei doch noch zur Vernunft kommt und eine Verfassungskrise in den USA verhindert werden kann. Wenn nicht, würde sich die Welle der Erleichterung in eine Woge der Unsicherheit verwandeln.

Einstweilen sind die Impfstoff-Nachrichten von Biontech und seit gestern auch von dem Tübinger Biotech-Unternehmen Curevac sehr vielversprechend, genauere Details müssen jedoch abgewartet werden. Die Bewältigung der Covid-19-Pandemie wird noch sehr viel Energie und Kosten verursachen. Die Beschränkungen für Bürger und Unternehmen und Belastungen für Staat und Wirtschaft werden uns wohl noch eine ganze Weile begleiten.

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