Früher gab es viele Börsenregeln, die deshalb Börsenregeln wurden, weil die Umstände eben immer wieder regelhaft eintraten. Im Mai fielen oft die Kurse, und wer gut beraten war, hatte seine Aktien verkauft („Sell in May and go away“). Wenn er oder sie dann noch im September nicht vergaß, auf das Börsenparkett zurückzukehren, um die Jahresendrally mitzunehmen, war die langfristige Rendite gesichert („but remember, come back in September“). Nun, die Mai-Monate der letzten Jahren zeigten, dass diese Regel nicht eben geeignet waren, diese Regel fortzuschreiben. Letztes Jahr im Mai zu verkaufen, dürfte so das falscheste gewesen sein, was man hätte machen können und auch dieses Jahr brachte der Mai neue Rekordstände an den internationalen Aktienmärkten. Eine andere Übereinkunft unter Börsenteilnehmern lag drin begründet, dass die Aktienkurse das wirtschaftliche Geschehen in ca. sechs Monaten vorwegnehmen. Und nun will die US-Notenbank Fed in zwei (!) Jahren eventuell (!) die Zinsen erhöhen und alle Welt erstarrt vor Zinsfurcht. Die Aktienmärkte reagierten mit einem kleinen Kursrutsch, der sich letzten Freitag noch verstärkte, Auslöser war der Präsident der Notenbankfiliale St- Louis, James Bullard (nun kennt man auch diesen Namen), der bemerkte, dass angesichts der höher als erwartet ausgefallenen Inflationsraten nicht erst 2023 (bzw. ursprünglich 2024) , wie der Fed-Chef Powell ankündigte, sondern bereits Ende 2022 mit ersten Zinserhöhungen zu rechnen sein könnte. Die hektische Reaktion der Aktienmärkte deutet auf ein gesteigertes Nervositäts-Potential hin, denn wie das konjunkturelle Umfeld in eineinhalb Jahren sein wird, kann niemand wissen.
Die Ängste vor Zinserhöhungen in näherer oder weiterer Zukunft, zumindest über den Zeitraum von sechs Monaten hinaus, beschäftigen die Marktakteure jedenfalls sehr. Das verwundert bei den stark gestiegenen Inflationsraten auch nicht, wobei der hohe Anteil von immens starken Basiseffekten beachtet werden muss. Der Begriff “Basiseffekt“ deutet schon an, dass die aktuell hohe Inflationsraten, die üblicherweise im Vergleich zum Vorjahreswert ermittelt werden, durch Sondereffekte nach oben verzerrt werden. So ist z.B. der Rohölpreis als gewichtiger Einflussfaktor für die Entwicklung der Inflationsrate im Vergleich zum Tiefstand vor einem Jahr (Höhepunkt der Covid-19-Krise) um ca. 270 % gestiegen. Aus diesem Grund gehen die Notenbanken davon aus, dass diese hohen Inflationsraten eher vorübergehender Natur sind. Verstärkt werden diese Preisteuerungen aber auch von Knappheitszuständen etwa bei Halbleiter-Chips sowie seltenen, aber auch in großem Maße benötigten industrie-Metallen. Oder auch von knappen Transport-Möglichkeiten im Container-Bereich.
Überall steigen die Preise, und dies könnte außerhalb der beobachteten Basiseffekte zu länger anhaltendem Preisdruck nach oben führen. Und da mit steigenden Inflationsraten meist steigenden Zinsen einhergehen, starren Aktieninvestoren aktuell wie das Kaninchen auf die Schlange auf alle Wirtschaftsdaten und Aussagen von Zentralbank-Vertretern und –Vertreterinnen, um einschätzen zu können, wann denn jetzt die erste Leitzinserhöhung in den USA erfolgen könnte.
Die große Angst der USA ist definitiv in der wachsenden Bedeutung Chinas auf der Weltbühne zu sehen. Auch die neue Biden-Regierung schmiedet Bündnisse, um das immer weiter erstarkende China in Schach zu halten. Für Europa bedeutet dies eine Gratwanderung, denn man möchte weder den wieder aufgelebten transatlantischen Partner verschrecken, noch auf die überaus wichtigen und lebensnotwendigen Wirtschaftsbeziehungen zu China verzichten. Die wertvollsten Marken der Welt finden sich immer noch in den USA. Einer Studie zufolge führt Amazon (684 Mrd. USD) die weltweite Liste an, gefolgt von Apple (612 Mrd.), Google (458 Mrd. ) und Microsoft (410 Mrd.). Auf Platz 5 folgt dann mit Tencent schon das erste chinesische Unternehmen, während das erste europäische, der Luxusgüter-Konzern LVMH, abgeschlagen auf dem 21. Platz auftaucht. SAP als erstes deutsches Unternehmen belegt Platz 26. Die Frage wird nicht sein, ob China die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablöst, sondern wann. Erste Schätzungen vor einigen Jahren gingen vom Jahr 2050 aus, dies dürfte nun wesentlich früher geschehen. Aktieninvestoren müssen eigentlich keine Angst vor so einer Entwicklung haben, denn die Anteile an chinesischen Aktien an den internationalen Aktienindizes werden in den nächsten Jahren stetig wachsen. Eine Verschiebung der Anteile innerhalb einer internationalen Diversifikationsstrategie, die sich sowieso immer mittelfristigen Änderungen anpassen muss, hin zu Asien ist schon seit Jahren die Folge. Aktieninvestoren können somit auch von dem chinesischen Wachstum profitieren. Die Herausforderung für die „alten“ Industrienationen wird sein, ihren Platz im Weltgefüge zu finden und Arbeitsplätze in der Breite zu erhalten. Dies kann mit Vorreiterrollen bei erneuerbaren Energien und vielen technologischen Bereichen erreicht werden. Hierbei helfen jedoch keine Angstzustände vor unvermeidlichen Veränderungen, sondern Innovation und Engagement. Angst war noch nie ein guter Ratgeber, weder bei der Kapitalanlage, noch in sonstigen Bereichen des Lebens.