Die Marktmeinung aus Stuttgart

Hohe Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft

Stuttgart, 08. Juli 2020 - von Michael Beck

Nun ist es so weit, Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Und dies zu einem Zeitpunkt, der entscheidender nicht sein könnte. Inmitten der größten Rezession seit den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts werden in den nächsten sechs Monaten die Weichenstellungen für nichts weniger als die Zukunft der europäischen Union gestellt werden. Mehrere Riesenthemen gilt es zu bewältigen. Vordergründig werden gleich am Anfang des zweiten Halbjahres auf dem EU-Sondergipfel am 17./18. Juli Antworten für die Finanzierung der Folgen der immer noch schwelenden Covid-19-Pandemie gefunden werden müssen. Die Finanzmärkte werden sehr genau darauf schauen, ob unter den 27 EU-Staaten Einigkeit darüber gefunden werden kann, wie das 750-Mrd.-€-Hilfspaket der EU-Kommission ausgestaltet werden kann. Sollen es Kredite sein, Finanzspritzen ganz ohne Bedingungen oder eine Mischung aus beidem, was wahrscheinlich sein wird? Und wenn beide Varianten zum Zuge kommen, in welchem prozentualen Verhältnis? Vielleicht ist eine glückliche Fügung, dass die Bundeskanzlerin es wieder einmal schaffen kann, verschiedene Positionen zu versöhnen. Denn einige Nord-(Spar-)Staaten und die (bedürftigen) südeuropäischen Staaten haben naturgemäß sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Solidarität unter den EU-Staaten ausgestaltet werden soll. Es könnte der Höhepunkt der langen Regierungszeit für die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel werden, die wohl als einzige Regierungschefin in den Genuss einer zweiten EU-Ratspräsidentschaft (alle 13,5 Jahre) kommen dürfte. Und dies im Damen-Tandem mit der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Innerhalb des nächsten halben Jahres kann sie nochmals auf dem Höhepunkt ihrer Regierungstätigkeit in die Geschicke der EU eingreifen, bevor sie im Wahljahr 2021 zunehmend durch die Kanzlerkandidaten-Kür in Deutschland eher an den Rand gedrängt werden wird. Der Rückenwind der in Deutschland (bisher) sehr gut bewältigten Covid-19-Krise hat ihr Ansehen in Europa wieder sehr gestärkt. Die schon vor der Übernahme der Ratspräsidentschaft geschmiedete Allianz mit dem französischen Präsidenten Macron hat die Zielrichtung bereits vorgegeben. Denn der Quantensprung, den von der EU-Kommission ausgegebenen Schuldtiteln, die eine Vergemeinschaftung von europäischen Schulden zur Folge haben, zuzustimmen, ist bereits erfolgt. Für den Fortbestand der europäischen Union in der heutigen Form und mit den heutigen Mitgliedern ist es essenziell notwendig, in der Finanzierungsfrage einen tragfähigen und für alle einigermaßen zufriedenstellenden Kompromiss zu finden. Die Finanzmärkte haben diesen Kompromiss bereits in ihren Kursanstieg eingepreist. Sollte das Stützungspaket scheitern, wären die Kursgewinne des zweiten Quartals wohl Geschichte.

Ein weiterer Felsbrocken, der auf dem Weg der deutschen Ratspräsidentschaft liegt und Mühe bereitet, ist das ungelöste Brexit-Dilemma. Der Weckruf des EU-Chefunterhändlers Barnier letzte Woche hat ein Schlaglicht darauf geworfen, dass die Wahrscheinlichkeit eines ungeregelten Ausscheidens der Briten aus der EU gestiegen ist. Und die restlichen Themen Digitalisierung, Migration/Asylpolitik, Ausbau der Sicherheitspolitik auf europäischer Ebene und die Umsetzung bzw. Ausgestaltung des „Green Deal“, also der Klimapolitik, sind weitere Themen, die die deutsche Ratspräsidentschaft prägen und die Finanzmärkte beschäftigen werden.

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