Die Marktmeinung aus Stuttgart

Die Impf-Ambivalenz

Stuttgart, 17. März 2021 - von Michael Beck

Die ersten beiden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind zum Start des Super-Wahljahres wie erwartet mit der Bestätigung der Amtsinhaber ausgegangen. Die Wahlniederlage der Union war jedoch so deutlich, dass nun die Berliner politische Landschaft in Aufruhr ist. Für den deutschen Aktienmarkt änderte sich naturgemäß nichts, denn diese beiden Konstellationen waren bereits eingepreist. Indirekt aber waren für die schlechten Ergebnisse nicht nur die Provisionsskandale einzelner Unions-Abgeordneter verantwortlich, sondern auch die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Krisenmanagement der Regierung. Die nach wie vor andauernden Lockdown-Beschränkungen ziehen die Wirtschaft und die Bevölkerung immer mehr in Mitleidenschaft. Nun verzögert der vorläufige Impfstopp mit dem AstraZeneca-Impfstoff die zuletzt endlich in Schwung gekommene Impfkampagne und wird den Start der wirtschaftlichen Erholung einmal mehr nach hinten verschieben.

Das Beispiel USA zeigt jedoch auf, wie die Aktieninvestoren durch die Krise hindurchschauen. Die Einzelhandelsumsätze sind im Februar zwar um –3,0 % gesunken (Prognose –0,40 %), das Januar-Plus wurde aber von +5,3 auf +7,6 % hochrevidiert. Die nach wie vor andauernde Sektor-Rotation in zyklische Titel sorgt zurzeit für einen neuen Höchststand des Dow-Jones-Index nach dem anderen. Auch der DAX erklomm gestern mit 14.602 Punkten einen neuen Rekord und schickt sich an, gen 15.000 Punkte zu marschieren.

Auch hier sind es die zurückgebliebenen Industriewerte, die aufgrund guter Quartalszahlen und Hoffnung auf bessere Zeiten starke Kursgewinne erzielen. Auf internationaler Investorenebene scheinen die negativen Folgen der Pandemie abgehakt, es wird von einer V-förmigen Konjunkturerholung ausgegangen und die Risikobereitschaft deutlich erhöht. Nun wird eher auf die Inflationsentwicklung und die Möglichkeit eines „Taper Tantrums“, also des Umschwenkens der Zentralbanken in eine restriktivere Geldpolitik geachtet. In Europa stieg die europäische Industrieproduktion im Januar mit +0,8 % stärker als die prognostizierten +0,5 %. Noch wichtiger waren die Dezember-Daten, die statt –1,6 % nur ein Minus von –0,1 % aufwiesen. Insbesondere die hohe Nachfrage aus Asien rettet derzeit die Industrie in Europa. In der Summe werden die massiven Belastungen nun aber weit in das zweite Quartal hineinreichen und die bisherigen Wachstumsprognosen pulverisieren. Auch die Probleme mit den Brexit-geschädigten Warenströmen zwischen der EU und Großbritannien spielen hier mit. Die EU exportierten im Januar 28,8 % weniger Waren nach UK. Von UK in die EU brach das Exportgeschehen sogar um 40,7 % ein. Es stellt sich die Frage, wann sich die Stimmung der Investoren eintrübt.

Der jüngste ZEW-Index, der auf der Befragung von Finanzexperten beruht, fiel wieder einmal besser als erwartet aus, bildet jedoch weder die beginnende dritte Covid-19-Welle noch die Verzögerung der Impfkampagne ab. Mittelfristig droht den Industrie-Value-Werten jedoch regulatorischer Gegenwind entgegenzuschlagen. Die Konzentration auf das ESG-Thema sorgt bereits jetzt für Blasenbildungen an den noch zu engen Anlagemöglichkeiten und lässt private wie institutionelle Investoren die „bösen“ Old-Economy-Werte aus den Portfolios werfen. Es ist unstrittig, dass die ESG-Themen nicht nur für die Bekämpfung des Klimawandels, sondern auch für den Zusammenhalt der Gesellschaften unabdingbar sind. In einer sinnvollen Anlagestrategie ist jedoch immer ein differenziertes Vorgehen wichtig. Eine einfache Einteilung in „gute“ und „böse“ Branchen mit anschließendem Mangel an Diversifikation im Portfolio ist nicht zielführend. Das Beispiel des „Umwelt-Ritters“ Tesla, der eine E-Auto-Fabrik in einer wasserarmen Gegend in Brandenburg baut und dort für Umweltprobleme sorgen könnte, zeigt, dass die Probleme vielschichtig sind. So verkündete das Öl-Unternehmen BP, bis 2050 CO2-neutral werden zu möchten. Der Stahlproduzent Thyssen möchte bis 2050 Stahl gänzlich ohne Kohle produzieren, interessanterweise auf der Basis von Wasserstoff, der u. a. von einer Fabrik eines anderen lange Zeit von Investoren geschmähten Öl-Unternehmens, Royal Dutch Shell, geliefert werden wird. Dieser Wasserstoff soll aus einer Fabrik stammen, die zurzeit in der Industrie-Herzkammer Deutschlands, dem Ruhrgebiet, gebaut wird. Selbstverständlich wird dies „grüner“ Wasserstoff sein, der mit Strom produziert werden wird, welcher aus erneuerbaren Energiequellen stammt. Es ist also notwendig, bei allen Unternehmen auf die Einhaltung der ESG-Kriterien zu achten, ihnen aber auch Zeit zu lassen, diese umzusetzen. Deutschland hat im letzten Jahr 8,7 % CO2-Ausstoß eingespart. Dies liegt nicht nur an dem Lockdown-Pandemie-Effekt, denn seit 1990 beläuft sich diese Einsparung auf –40,8 %. Klimaziele sind also erreichbar und der regulatorische Druck, die ESG-Vorgaben einzuhalten, wird dazu führen, dass nur jene Unternehmen auf den Kurszetteln bleiben, die dazu beitragen.

Für die Impfkampagne in Deutschland und Europa steht zu erwarten, dass der Impfstopp zeitnah wieder aufgehoben werden wird, da die Fälle mit starken Nebenwirkungen wie Hirnvenen-Thrombosen, mitunter leider auch tödlich, zwar erschreckend sind, aber im Verhältnis zu den Risiken einer Covid-19-Infizierung wesentlich geringer sind. Angesichts des stetig voranschreitenden Bedeutungsverlustes skandalgeprägter Kirchen würde Gretchen ihre Frage an Faust in der berühmten Religionsszene heute eher wie folgt formulieren: „Nun sag, wie hast du’s mit dem Impfen? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.“ Das Zitat müsste natürlich gendergerecht auf Frauen ausgedehnt werden, denn diese sind wahrscheinlich vor allem von den Komplikationen betroffen. Nach aktuellen Zahlen ist eine von 250.000 bis 300.000 geimpften Personen von diesen starken Nebenwirkungen betroffen, die Wahrscheinlichkeit, bei einer Covid-19-Infektion tödliche Thrombosen zu bekommen, ist jedoch ungleich höher als bei der Schutzimpfung. Die Akzeptanz des AstraZeneca-Impfstoffes wird zunächst leiden, aufgrund der Knappheit des Impfstoffes und der Seltenheit der Komplikationen ist jedoch mit einer zügigen Wiederaufnahme des Impftempos zu rechnen.

Es gibt auch keine Alternative dazu, will man wieder zu einem halbwegs normalen Leben zurückkommen. Insbesondere vor dem Hintergrund stark steigender Infektionszahlen, welche die bereits laufende dritte Welle deutlich anzeigen und die weiteren Öffnungen verhindern werden. Auch scheint sich langsam die Erkenntnis durchzusetzen, dass Schulen und Kitas durchaus Pandemie-Treiber sind und Kinder, wie Studien bereits seit Herbst letzten Jahres nahelegten, genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Schnelltests werden hoffentlich helfen, dieses Pandemie-Geschehen einzudämmen.

Unruhige Zeiten liegen also noch vor uns. Es wird spannend sein, ob die Investoren weiterhin durch die Krise hindurchschauen und ihr Anlagekapital in den Aktienmarkt leiten. Allein im Februar wurden im ETF-Sektor weltweit mit 108,1 Mrd. Euro so viele Aktien gekauft wie nie zuvor. In Deutschland stieg die Aktionärsquote während der letzten 12 Monate mit einem Plus von 30 % auf 12,4 Millionen steil an. Gute Entwicklungen, die insbesondere auch den erforderlichen Umbau der Altersversorge einleiten, die aber auch in ihrer Vehemenz die ein oder andere Übertreibung implizieren.

Hinweise:

Die vorliegenden Informationen sind keine Finanzanalyse im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes und genügen nicht allen gesetzlichen Anforderungen zur Gewährleistung der Unvoreingenommenheit von Finanzanalysen und unterliegen nicht einem Verbot des Handels vor der Veröffentlichung von Finanzanalysen.