Viele Investoren fragen sich, wo die Aktienmärkte aktuell stehen. Befinden wir uns am Ende einer fulminanten Aufholbewegung nach dem schnellsten und stärksten Crash der Geschichte (ausgelöst durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie im März 2020), die viele internationale Indizes inzwischen auf neue Rekordstände geführt hat oder sind wir am Beginn eines neuen Super-Zyklus, der durch einen vielschichtigen Transformations-Prozess mit mannigfaltigen Disruptionen einerseits und vielen neuen Geschäftschancen andererseits ausgelöst wird? In den letzten Jahren bildeten sich in den Kapitalmarktstrategien sogenannte „Anlagestile“ heraus, die beispielsweise eine Unterscheidung in Wachstumsaktien („Growth“) und „Value“-Aktien beschreiben. Zu Growth-Aktien werden i.d.R. schnell wachsende, hoch finanzierte Unternehmen aus innovativen Bereichen wie Technologie, Biotechnologie etc. gezählt, während die Value-Werte eher Unternehmen aus den „alten“ Industrien wie Automobil-. Maschinenbau- oder Energiewirtschaft umfassen. Viele Technologiewerte gehören zu den Profiteuren der Covid-19-Pandemie und haben während der Pandemie-Zeit endgültig zu grandiosen Kurssteigerungen angesetzt. Dadurch wurden Bewertungsniveaus erreicht, die auch vor dem Hintergrund kräftig sprudelnder Gewinne ambitioniert erscheinen, sodass es nicht verwundert, dass die Kursrally bei vielen dieser Werte ins Stocken geraten ist. Anders dagegen viele sog. „Value-Werte“, die aufgrund der Pandemieverwerfungen massiv unter Druck geraten waren. Sie profitieren nun von den berechtigten Hoffnungen auf eine mögliche Überwindung der Pandemie durch die in Fahrt gekommene Impfkampagne und durch die anstehenden Lockerungen in vielen Volkswirtschaften der Welt. Dadurch konnten sie seit der Veröffentlichung der positiven Biontech-Impfnachricht am 09. November 2020 in Verbindung mit der Wahl des neuesten US-Präsidenten Joe Biden und der mit diesen beiden Ereignissen verbundenen Konjunkturhoffnungen profitieren. Ausdruck hierfür sind die jüngsten Daten zu den Auftragseingängen in der Industrie, die zwar zum Vormonat aufgrund einer Inlandsschwäche leicht mit -0,2% zurückgingen (Auslandsorders +3,60%), aber zum Vorjahresmonat auf einem um +78,9% höheren Niveau liegen. Aber auch die Konsumneigung und Stimmung in den Dienstleistungsbranchen steigt wieder beständig.
Allerdings stellt sich die Frage, ob diese althergebrachte Unterscheidung in „Value“ und „Growth“ immer noch zielführend ist. Denn technologische Disruptionsprozesse haben längst auch die Industriewerte erreicht. Sei es der Transformations-Prozess der Automobil-Wirtschaft hin zur E-Mobilität oder zu alternativen Antriebstoffen aber auch technologische Entwicklungen á la „Industrie 4.0“.
Anderseits können auch bei arrivierten, zu Riesenkonzernen mutierten Tech-Giganten die alten Wachstumsraten aus dem Startup-Zeitalter nicht dauerhaft gehalten werden. So wird schnell klar, dass es nicht zielführend sein kann, sich nur auf einen dieser Anlagestile zu konzentrieren. Wie so oft liegt die Lösung in der Mitte. Innerhalb einer internationalen Diversifikationsstrategie gilt es, Protfolios über einen ausgewogenen Stil-Mix zu steuern und die besten Länder-/Regionen und Themen (z.B. Megatrends) zu kombinieren.
Daneben ist auch die Entwicklung der zukünftigen Unternehmensgewinne, als Grundlage für die Aktienbewertungen an den Börsen zu beachten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die jüngste Übereinkunft der G7-Gruppe, die nach jahrelangen Verhandlungen eine Mindestbesteuerung von 15% auf Unternehmensgewinne ausgehandelt haben. Diese längst überfällige Regelung könnte insbesondere große, international operierende und Steueroasen nutzende (Tech-)-Konzerne treffen. Große Auswirkungen auf die Aktienkurse sind jedoch kurzfristig nicht zu erwarten, da diese Steuerbelastungen tragbar sind. Im übrigen wird die tatsächliche Umsetzung und die Überwindung von Widerständen gegen diese Mindestbesteuerung sicher weitere Jahre in Anspruch nehmen.
Kurzfristig sind eher die Inflations- und Zinsentwicklungen wichtig für die Börsenkurse. In den USA liegt die Inflationsrate aktuell bei 4,20 %. Das lässt aufhorchen und seitdem werden sämtliche Wirtschaftsdaten auf ihre Inflationswirkung hin untersucht. Die US-Arbeitsmarktdaten letzten Freitag waren in dieser Hinsicht optimal, das sie zwar relativ gut ausgefallen sind, aber etwas schwächer als erwartet waren. Die Inflationsraten werden jedoch unter Aufwärtsdruck bleiben, denn nicht zuletzt die derzeitige Knappheit an Rohstoffen und Halbleiter-Chips sorgen für steigende Preise. So stieg der Metallpreisindex IMP des Deutschen Instituts für Wirtschaft (IW)) in Köln zum siebten Mal in Folge und zum ersten Mal über 500 Punkte auf 529,5 Zähler. Damit liegt er 50% über dem Stand von vor einem Jahr. Auch die Weltmarktpreise für Lebensmittel, gemessen durch den FAO-Index der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (ein Warenkorb aus Getreide, Ölsaaten, Milchprodukte, Fleisch und Zucker) sind im Mai mit der höchsten Rate seit über 10 Jahren gestiegen. Diese Entwicklungen dürften die nächsten Monate noch anhalten, doch wird allgemein erwartet, das dieses Inflationsspitzen vorübergehender Natur sein werden und sich spätestens in 2022 wieder normalisieren.
Das Stuttgarter Traditionsunternehmen Bosch wird seinen Teil dazu beitragen, denn gestern hat das Unternehmen eine neue, moderne Chip-Fabrik in Dresden eröffnet. Weltweit werden zudem die Produktionskapazitäten in der Chip-Produktion massiv ausgebaut. Dies ist auch dringend notwendig, denn nicht nur die Automobilindustrie wartet dringend auf Nachschub. So könnte es zu der paradoxen Situation kommen, dass die Nachfrage nach Autos, Maschinen und anderen technischen Produkten im zweiten Halbjahr zwar massiv in Fahrt kommt, wenn sich der pandemiebedingte Investitionsstau auflöst, das Angebot aber aufgrund der Chip-Knappheit nicht mithalten kann. In der Summe werden jedoch nach erfolgreichen Öffnungen des öffentlichen und kulturellen Lebens die Wachstumsraten in Schwung kommen. Der damit verbundene Inflationsdruck und damit einhergehende Zinsanstiege an den Finanzmärkten müssen zwar beobachtet werden, dürften aber durch die Zentralbanken beherrschbar bleiben. Seit einigen Wochen sind kaum mehr Zinsanstiege an den Märkten zu beobachten. So dürfte uns die eher seitwärts gerichtete Tendenz an den Aktienmärkten noch eine Weile begleiten. Zumindest solange an den Rentenmärkten weiterhin Ruhe herrscht.