Die Marktmeinung aus Stuttgart

Das L-Gleichgewicht

Stuttgart, 29. Juli 2020 - von Michael Beck

Eine von vielen Investoren befürchtete L-Variante dürfte wohl vermieden worden sein – die L-förmige Konjunkturentwicklung, die einen massiven Absturz der Wirtschaft ohne anschließende Erholung bedeuten würde. Der jüngste ifo-Geschäftsklimaindex und die Einkaufsmanager-Indizes auf europäischer Ebene bestätigen, was schon Echtzeitindikatoren wie smartphonebasierte Mobilitätsdaten und LKW-Verkehrsdaten anzeigten: Die Wirtschaft ist wieder auf Wachstumskurs, wenn auch zunächst aus dem tiefen Tal der Tränen heraus. Ende der Woche werden die BIP-Zahlen für das zweite Quartal in Deutschland, Europa und den USA vermeldet. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden das Zahlen sein, die man so noch nicht gesehen hat. Aber zum Glück sind das Vergangenheitsdaten.

Wie seit Monaten beherrscht das neuartige Covid-19-Virus das Geschehen. Nach den weltweit vorherrschenden Lockdowns zur Eindämmung der Pandemie wurden überall die Beschränkungen gelockert, Restaurants, Läden und Fabriken wieder geöffnet. Immerhin mit entsprechenden Hygiene- und Verhaltenskonzepten, die ein Wiederaufflackern der Ansteckungsraten verhindern sollten. Die Frage stellt sich jedoch zunehmend, ob die beiden großen „L“ kompatibel sind. Stellen „Lockdown“ und „Lockerung“ unvereinbare Gegensätze dar, die sich ausschließen, oder gelingt es, einen Gleichgewichtszustand herzustellen, der sinnvolle Beschränkungen mit sinnvollen Lockerungen verbindet, was die Bevölkerung schützt und gleichzeitig der Wirtschaft wieder Luft zum Atmen gibt?

In Deutschland scheint dies bisher gelungen zu sein, aber leider droht dieser Zustand zunehmend aus dem Gleichgewicht zu geraten. Es erweist sich wieder einmal die Wahrheit eines kleinen Gedichtes von Eugen Roth: „Auch Menschen gibt es, ganz verstockte, wo es uns immer wieder lockte, sie hin- und herzuschwenken, in Fluss zu bringen so ihr Denken …“ Dies möchte man mit den vielen Menschen tun, die täglich vor aller Augen, nachts bei heimlichen oder öffentlichen Party-Events, aber auch z. B. Gottesdiensten und Trauerfeiern sämtliche Abstands- und Hygieneregeln missachten und dazu beitragen, dass das Covid-19-Virus immer wieder neue Chancen bekommt.

In den USA lässt sich betrachten, was passiert, wenn die Gefährlichkeit dieses Virus systematisch verharmlost wird und Lockerungen auf breiter Front zu früh durchgeführt werden. Die Krankenhäuser in vielen Staaten der USA sind nicht mehr aufnahmefähig und die Ansteckungs- und Todeszahlen erreichen täglich neue Höchststände. Als erste Reaktion hat sich gestern ein wichtiger Konjunktur-Indikator mächtig eingetrübt. Der US-Verbrauchervertrauen-Index des Forschungsinstituts „Conference Board“ fiel von 98,1 auf 92,6 Punkte. Insbesondere in den stark betroffenen Covid-19-Staaten mit neuerlichen Lockdown-Maßnahmen trübte sich das Konsumentenvertrauen stärker ein als erwartet. Die Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe stiegen in der vergangenen Woche wieder auf über 1,4 Mio. an, was darauf hindeutet, dass die Erholung auf dem US-Arbeitsmarkt ins Stocken geraten ist. Dies belastet wiederum den Konsum, der die wichtigste Stütze des US-Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Mit ca. 70 % Anteil an dieser Kenngröße kommt dieser Stellgröße entscheidende Bedeutung zu. Die Aktienmärkte halten ihre anspruchsvollen Niveaus derzeit einzig auf der Basis einer Hoffnung auf neuerliche dicke Konjunkturpakete der Fed und der US-Regierung und der exorbitanten Kursentwicklung der fünf großen Tech-Giganten, deren Marktkapitalisierung bereits ca. 20 % des S&P-500-Index ausmacht. In dieser Woche berichten diese Unternehmen ihre Gewinnzahlen, die davon profitieren werden, dass der Online-Handel und die Digitalisierung in Covid-19-Zeiten große Zuwachsraten erfahren.

Aufgrund der sehr hohen Erwartungen dürfte es diesen Unternehmen jedoch schwerfallen, diese zur Gänze zu erfüllen. Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, könnten Gewinnmitnahmen („sell on good news“) in diesem von Unsicherheit geprägten Umfeld drohen. Denn der kalte Krieg zwischen den USA und China nimmt mit gegenseitigen Konsulatsschließungen und Flugzeugträgerbewegungen an Fahrt auf und die Brexit-Verhandlungen der EU mit Großbritannien deuten darauf hin, dass ein harter Brexit mit negativen Wirtschaftsfolgen für beide Partner stattfinden wird. Beides Themen, die auch schon ohne Covid-19-Pandemie zu Missstimmung an den internationalen Börsenplätzen führen dürften. Dies sind Zeiten, die ein „Laissez faire“ in der Kapitalanlage nicht verzeihen. Eine angemessene Cash-Quote und die konsequente Beibehaltung einer internationalen Diversifikationsstrategie sollten Investoren immer im Blick haben.

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