„Lockerungen oder Leben“ – auf diese Formel kann man die aktuelle Diskussion über mögliche Konzepte der schrittweisen Öffnung des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft nicht so einfach verkürzen. Dafür ist die Gemengelage und der Einschnitt in unser aller Leben zu tief und einschneidend. Dennoch lässt sich eine neue Qualität in der Diskussion feststellen, da inzwischen klar wird, welch immensen Schäden der „Lockdown“ in der Gesellschaft und Wirtschaft verursacht. Die Rufe und der faktische Zwang, die Maßnahmen zu lockern, werden immer drängender und die politischen Entscheidungsträger können sich nicht mehr verwehren. Aus epidemiologischer Sicht wäre es wahrscheinlich besser gewesen, den strikten Lockdown noch zwei bis drei Wochen aufrechtzuerhalten, um die Neuansteckungsrate so weit zu drücken, dass die einzelnen Fälle wieder nachvollziehbar und beherrschbar gewesen wären. Den vielen Betroffenen, die vor dem totalen Verlust ihrer Existenz stehen, wäre das jedoch nicht vermittelbar gewesen. Die Aktienmärkte feiern die Aussicht auf weitreichende Lockerungen, die mit der Hoffnung auf eine schnellstmögliche Normalisierung der Lage verbunden sind. Der deutsche Leitindex DAX steht kurz vor der Marke, die eine 50 %-Erholung von den massiven März-Kurseinbrüchen bedeuten würde. Dies bringt vielen Investoren Erleichterung, mindert es doch die ungewöhnlich hohen Verluste, die noch Ende März zu Buche standen. Die Frage ist nun, wie es weitergeht. Da gibt es wie immer zwei Lager: die Optimisten und die Pessimisten. Beide schauen zwar nach vorne, sehen aber unterschiedliche Zukunftsszenarien. Die Optimisten gehen zu Recht davon aus, dass die Virus-Krise irgendwann überstanden sein wird und der Normalzustand erreicht werden kann. Sowohl von der Wirtschaftsleistung als auch den Kursniveaus an den Aktienmärkten. Da bietet es sich an, auch im derzeitigen Umfeld schon zuzugreifen und Aktien zu kaufen, um sich die Performance der nächsten Jahre zu sichern. Pessimisten sehen – ebenfalls zu Recht – die grausamen Wirtschaftsdaten und einbrechenden Unternehmensgewinne der nächsten Wochen und Monate und agieren eher vorsichtig auf den Börsenparketten.
Beide Lager dürften recht haben – aber wahrscheinlich nacheinander. Denn die aktuell optimistische Stimmung an den Aktienmärkten hat eine V-förmige, also relativ schnelle Erholung der konjunkturellen Rahmenbedingungen eingepreist. Je länger das Virusgeschehen jedoch dauert, desto klarer wird, dass zur Beschreibung des zukünftigen Konjunkturverlaufs ein anderer Buchstabe des Alphabets als das „V“ herhalten muss. Der Worst Case wäre der Buchstabe „L“, der nach dem beispiellosen Absturz der Wirtschaftsleistung, in dem wir uns befinden, nur eine Seitwärtstendenz auf niedrigem Niveau ohne Erholung bereithielte. Um das zu verhindern, haben Zentralbanken und Regierungen Hilfspakete und Konjunkturprogramme auf den Weg gebracht, die bereits jetzt den vierfachen (!) Umfang dessen haben, was nach der Finanz- und Schuldenkrise 2008/ 2009 aufgewendet wurde. Also ist ein U-förmiger Verlauf eher wahrscheinlich, ein „W“ wäre nicht so wünschenswert, aber immer noch besser als das „L“. Die Unsicherheit bleibt bestehen. Entscheidend wird sein, wann ein Impfstoff oder zumindest eine wirksame Medikamentation für die schweren Fälle der Covid-19-Infektion bereitstehen. Solange der inzwischen entscheidende Reproduktionsfaktor unter 1 bleibt, werden die schrittweisen Öffnungen weiter möglich sein. Weitere Ansteckungen mit dem entsprechenden Anteil von schweren Verläufen und Todesfällen werden dabei unvermeidbar sein. Es steht zu hoffen, dass dies der Bevölkerung bewusst ist, damit die Vorsichtsmaßnahmen hoch- und eingehalten werden. Was bedeutet das für die Anleger/-innen? Am besten mutieren sie zu einem Zwitter-Charakter, dem „pessimistischen Optimisten“, der auf Sicht vorsichtig agiert, aber antizyklisch an sehr schwachen Tagen die Chancen nutzt, die die Kapitalmärkte ermöglichen. Voraussetzung ist dabei ein entsprechend langer Anlagehorizont, denn es ist nicht klar, wann die Krise überwunden sein wird, aber eines Tages wird sie es sein.